«Nickel and Dimed» – so werden 40 Millionen Geringverdiener in den USA systematisch ausgebeutet
Für ihr Buch «Nickel and Dimed» recherchierte die Investigativ-Journalistin Barbara Ehrenreich undercover als Kellnerin, Putzfrau und Walmart-Verkäuferin in den USA.
Am 11. April 2024 machte Donald Trump in einem Chick-fil-A Fast-Food-Restaurant, in Atlanta einen Zwischenstopp. Für die anwesenden Gäste bestellte er Milkshakes.
Peinlich genug, dass er dabei nur 100 US-Dollar für die 30 Gäste ausgab (nämlich 30 x 3.39 USD), die ihm nicht einmal ein Hühnchen-Sandwich für je 5.55 Dollar wert waren. Der Milliardär Trump fragte die Mitarbeiterinnen: «Is business good? You make a lot of money?» Und erklärte ihnen dann: «That's how you get rich!»
Tatsächlich verdienen die Mitarbeiterinnen von Chick-fil-A nur gerade 11 US-Dollar pro Stunde, der existenzsichernde Lohn beträgt 24 Dollar pro Stunde. Die Frauen werden also nicht reich – sie brauchen sogar einen zweiten Job, um wenigstens das existenzsichernde Minimum zu verdienen.
Das Bild aus Atlanta zeigt es: betroffen sind vor allem Afroamerikaner, aber auch Latinos und die weisse Unterschicht. Diese sogenannten Working Poor werden in den USA «Nickel-and-Dimed» (sinngemäss übersetzt: systematisch ausgebeutet).
Woher kommt der Begriff «Nickel-and-Dimed»?
Die Fünf-Cent-Münze ist aus Nickel, weshalb sie in den USA im Volksmund als Nickel bezeichnet wird. Die Zehn-Cent-Münze wiederum heisst offiziell Dime, nach dem französischen dîme respektive dem lateinischen decima (Zehntel).
Diese beiden nach dem Penny (1 Cent) kleinsten Münzen der US-Währung stehen für Kleinstbeträge, eben Nickel und Dime, mit denen vor allem ärmeren Menschen das Geld aus der Tasche gezogen wird. Diesen Working Poor nimmt man systematisch kleine Geldbeträge weg, indem man für jedes kleine Extra Gebühren verlangt.
Barbara Ehrenreich kämpfte zeitlebens für bessere Lebensbedingungen der Working Poor
Barbara Ehrenreich ist in den 1940er-Jahren in einer Kupferminen-Stadt im US-Bundesstaat Montana aufgewachsen. Beide Grossväter und auch ihr Vater waren Bergarbeiter und Gewerkschafter. Die Familie brachte der Tochter zwei eiserne Regeln bei: «Umgehe niemals einen Streikposten und wähle niemals die Republikaner!»
Ehrenreich liess die Kupferminen und Montana hinter sich, studierte Physik sowie Molekularbiologie und promovierte mit einer Doktorarbeit zu Zellbiologie. Nach 1972 machte sie Karriere als Journalistin und Schriftstellerin. Am bekanntesten war sie für ihre Sachbuch-Reportagen, Buchbesprechungen und sozialen Kommentare von der «New York Times» über «Time» und «Life» bis zur «Washington Post».
Zeitlebens kämpfte Barbara Ehrenreich für bessere Lebensbedingungen der Working Poor, 2006 gründete sie United Professionals, eine gemeinnützige Organisation für arbeitslose, unterbeschäftigte und prekär beschäftigte Arbeitnehmer. Ehrenreich starb 2022 im Alter von 81 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls.
Wie recherchierte Barbara Ehrenreich für «Nickel-and-Dimed»?
1998 beschloss die damals 57jährige Barbara Ehrenreich, für das renommierte «Harper’s Magazine» undercover das Alltagsleben der Working Poor zu erkunden, also jener Erwerbstätigen, die trotz Arbeit unter der Armutsgrenze leben.
Mit ihrem Doktortitel (den sie bei Bewerbungen natürlich verschwieg) und 1300 Dollar in der Tasche zog Ehrenreich nach Key West (Florida). Dort arbeitete sie als Kellnerin in zwei Restaurants gleichzeitig, damit sie ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht bestreiten konnte.
Danach zog Barbara Ehrenreich von der Südspitze der USA über 3000 Kilometer in den Nordosten, nach Portland (Maine). Nach vier Tagen Arbeitssuche hatte sie wieder zwei Jobs – gleichzeitig als Hilfspflegerin und als Putzfrau.
Für einen dritten Einsatz zog sie noch einmal 2600 Kilometer nach Norden, nach Minneapolis (Minnesota). Dort übernahm sie einen Niedriglohn-Job beim Detailhändler Walmart, dem grössten privaten Arbeitgeber der Welt.
Danach beendete Barbara Ehrenreich – fertig mit der Welt – ihr Experiment. Ihre Recherche erschien im Januar 1999 als 15 Seiten lange Reportage mit dem Titel «Nickel-and-Dimed» in «Harper’s Magazine».
2001 erschien ihr Bericht mit vielen Details ergänzt als Sachbuch. «Nickel and Dimed» vereint im angelsächsischen Stil wissenschaftliche Analyse mit literarischer Eleganz, oft auch mit trockenem Humor. Mit über 1,5 Millionen verkauften Büchern wurde «Nickel and Dimed» zum Bestseller und in viele Sprachen übersetzt (deutsch: «Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft»).
Für ihren Mut und selbstlosen Einsatz in ihrer journalistischen Arbeit wurde Barbara Ehrenreich unter anderem mit dem Erasmuspreis 2018 ausgezeichnet.
Als Working Poor braucht man mindestens zwei Jobs
Als Bilanz ihrer Undercover-Recherche stellte Barbara Ehrenreich fest, dass es ihr nicht einmal mit zwei Jobs gleichzeitig gelungen war, von den Einkünften ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Als Kellnerin im mondänen Key West verdiente sie 2,43 Dollar pro Stunde. Selbst mit zwei Jobs gleichzeitig konnte sie nur überleben, weil sie im Trailer Park übernachtete. Auf einem Wohnwagen-Stellplatz für den Trailer Trash, wie die Bewohner solcher Siedlungen abfällig bezeichnet werden. Ironischerweise lautet der Leitspruch von Key West «One Human Family», alle Menschen sollen mit Respekt und Würde behandelt werden. Stattdessen war der Arbeitsalltag der Kellnerin von Überwachung und Repressionen der Vorgesetzten geprägt.
Und in der reichen Bankenstadt Portland musste sie als Angestellte einer Reinigungsfirma im wörtlichen Sinne auf Händen und Knien putzen. Diese Haltung der Unterwerfung forderte explizit ihr Arbeitgeber – und die Hausbesitzer schauten ihr beim Putzen genüsslich zu.
In der reichen Wirtschaftsmetropole Minneapolis, wo mit der «Mall of America» das meistbesuchte Einkaufszentrum der Welt steht, räumte Ehrenreich bei Walmart in der Kleiderabteilung der Kundschaft hinterher. Als eine Arbeitskollegin ein heruntergesetztes Shirt kaufen wollte, verhinderte der Walmart-Manager den Rabatt von ein paar Dollar.
Barbara Ehrenreich musste den Buchtitel «Nickel and Dimed» schmerzhaft erfahren
Während ihrer Undercover-Existenz merkte Barbara Ehrenreich: Als Working Poor fallen dauernd Extrakosten an: Ohne Wohnung muss man auswärts essen, ohne Krankenversicherung muss man Medikamente selber bezahlen, ohne College-Abschluss muss man Niedrigstlohn-Jobs in der Periphere annehmen und hat damit einen langen Arbeitsweg. So werden die Armen systematisch noch ärmer gemacht.
Seit 1998 hat sich in den USA nicht viel geändert: Von den 350 Millionen US-Amerikanern leben 40 Millionen in Armut (12 Prozent), 28 Millionen US-Amerikaner haben keine Krankenversicherung und über 650’000 US-Amerikaner sind obdachlos.
Barbara Ehrenreich hatte auf die harte Tour erfahren, wie ärmeren Menschen das Geld aus der Tasche gezogen wird. «Wenn eine kerngesunde Person wie ich, die zudem ein intaktes Auto besitzt, sich im Schweiss ihres Angesichts kaum einen ausreichenden Lebensunterhalt verdienen kann, dann läuft etwas falsch, und zwar grundlegend falsch.»
Quellen
«Nickel and Dimed: On (Not) Getting by in America»
Barbara Ehrenreich
Picador; Anniversary Edition 2011
Taschenbuch, 244 Seiten
ISBN 978-0312626686
«Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft»
Barbara Ehrenreich
Antje Kunstmann Verlag, München 2001
Gebunden, 280 Seiten (nur noch antiquarisch)
ISBN 978-3888972836
Website von Barbara Ehrenreich
Rezensionen von «Arbeit poor» in «Perlentaucher»
Rezension von «Nickel-and-Dimed» in der «WochenZeitung» WoZ
Erasmuspreis 2018 für Barbara Ehrenreich
«The Working Poor: Invisible in America»
David K. Shipler
Vintage; Reprint Edition 2005
Taschenbuch, 352 Seiten
ISBN 978-0375708213